Ihr fragt mich auf der Tattooliege oft, wie es dazu kam, mein eigenes Studio zu eröffnen und Hand-Poke-Tattooartist zu werden. Viele Wege, die ich in meinem Leben bisher gegangen bin, wurden – wenn man so will – bereits in meiner Kindheit gepflastert. Dass ich jetzt das machen darf, was mich erfüllt, erforderte eine Menge Mut und vor allem Selbstvertrauen. Vieles davon habe ich mir mit der Zeit aufgebaut, doch einen riesigen Anteil daran hat meine Mutter. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr lebte ich mit meiner alleinerziehenden Mama im selben Haus wie meine Tante und meine beiden Cousinen. Meinen Vater, der getrennt von meiner Mutter lebte, habe ich zwar regelmäßig gesehen, doch meine Kindheit war, trotz unserer innigen Liebe zueinander, von Distanz zu ihm geprägt. Diese Zeit war sicherlich herausfordernd für eine junge, berufstätige Mutter, doch sie hat mich immer bedingungslos unterstützt und mir das Vertrauen gegeben, dass ich immer von jemandem aufgefangen werde. An mich selbst zu glauben, habe ich von klein auf gelernt – und dabei stets meine Mama als Vorbild gehabt. Sie hat selbst nie die Freude am Leben und ihre Interessen verloren, während sie ihre großen Verantwortungen jonglierte. Wir konnten über alles offen sprechen, und ich habe mich immer so angenommen gefühlt, wie ich bin.
Nach dem Abitur zog es mich nach Düsseldorf, wo ich ein freiwilliges Jahr in einem großen Kunstmuseum absolvierte. Dort bekam ich einen ersten Einblick in die Arbeitswelt mit einer 40-Stunden-Woche und eigener kreativer Verantwortung. Ich hatte die Chance, Bildungsmaterial für eine Ausstellung zu erstellen und Kurse mitzugestalten. Doch so spannend es war, ließ mich das Gefühl nicht los, dass diese Art des Arbeitens nicht das Richtige für mich ist. Ich fühlte mich eingeengt und in meiner Kreativität limitiert. Auch die Kunstszene wirkte auf mich damals wenig inklusiv, und man musste hart über das normale Pensum hinaus arbeiten und sich profilieren, um dazuzugehören. Museen sind für mich dennoch ein richtiger Safe Space, und ich liebe es, mir Kunst anzuschauen und mich in meinen Gedanken über die Werke zu verlieren.
Ich entschied mich, in einen anderen Bereich hineinzuschauen, und begann ein Studium der Islamwissenschaft mit Arabisch im Hauptfach und Kunstgeschichte im Nebenfach in Freiburg. Ich zog in eine mir noch wenig bekannte Stadt und startete mein Studium voller Neugier. Inhaltlich war es einerseits unglaublich bereichernd, ich liebe die arabische Sprache und knüpfte enge Freundschaften, doch die akademischen Strukturen engten mich andererseits erneut ein. Außerdem hatte ich meine ersten Begegnungen mit struktureller Ausgrenzung während meiner Bachelorarbeit, und mir missfiel die eurozentrische Sicht auf Kunst und Kultur in meinem Nebenfach. Ich hatte erst einmal genug von Deutschland, der Uni, und war auf der Suche nach neuen Abenteuern.
Also bewarb ich mich für eine Praktikumsstelle im Herzen Istanbuls bei einem deutsch-türkischen Verein mit Fokus auf Videodokumentation – und wurde angenommen. Es hieß: Sachen packen und auf nach Istanbul. Ich kann heute noch spüren, wie schnell mein Herz vor Aufregung pochte, als ich meine Mutter am Gate des Düsseldorfer Flughafens verabschiedete und mich alleine auf diese Reise machte. In Istanbul angekommen, holten mich meine zwei neuen Istanbuler Mitbewohnerinnen in der Stadt ab, um mir den Weg zur Wohnung zu zeigen, und ich fühlte mich willkommen. Meine Praktikumsstelle begann, doch ich stellte sehr schnell fest, dass ich dort nicht bleiben wollte. Die Arbeitsatmosphäre war toxisch, meine Chefs beendeten jeden Tag im sogenannten Home Office mit Bier, und das Team bestand aus genau zwei schwierigen Personen. Es war eine absurde Erfahrung, und mir wurde klar, dass ich bald eine Alternative brauchte. So schön die Stadt und meine Erkundungen und Begegnungen auch waren, so konnte es nicht lange weitergehen.
Ich bin unheimlich stolz, dass ich mein Praktikum nicht schon am ersten Tag fluchtartig verließ, sondern durchhielt und nach neuen Möglichkeiten suchte. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass mich diese Stadt glücklich machen würde, und ich liebte es, nach Feierabend noch durch die Straßen zu schlendern oder auf den Bosporus zu blicken. Zwischen all den vielen Menschen fühlte ich mich so lebendig. Zunächst – und ich konnte damals nicht wissen, dass es eine der besten Entscheidungen überhaupt war – recherchierte ich intensiv nach früheren Praktikanten des Vereins. Ich brauchte irgendwie die Bestätigung, dass ich nicht allein war mit meiner Erfahrung, oder wollte zumindest, dass jemand sagt: "Ach, so schlimm ist das nicht, halte durch!" So fand ich Theresa. Ich schrieb sie kurzerhand über Social Media an, und siehe da – sie antwortete und war sogar selbst noch in Istanbul. Wir verabredeten uns auf einen Çay, und daraus entstand eine wundervolle Freundschaft. Sie bestätigte mein Gefühl, und ich beschloss, aus meiner Praktikumsstelle zu fliehen. Theresa wohnte im asiatischen Teil Istanbuls, ich im europäischen. Wir trafen uns oft nach einer kurzen Fahrt mit der Fähre und besprachen die neuesten Skandale meines Arbeitsplatzes, und wir schmiedeten Pläne – sie aß dabei Lammspieß, und ich die vegane Version mit Pilzen. Ich glaube, ich weiß noch heute genau, wie es schmeckte. Auch dank dieser neuen Freundschaft hatte ich ein gutes, behagliches Gefühl in dieser riesigen 20-Millionen-Metropole und nahm den ersten Schritt in mein neues Leben, ohne daran zu denken, umzukehren.
Nach dem Bachelor wollte ich mir endlich einen insgeheim lang gehegten Traum erfüllen: nach Istanbul ziehen. Die Stadt war für mich ein Sehnsuchtsort, und die Türkei die Heimat meines Vaters. Mein Vater und ich – gemeinsam oder ich alleine – besuchten das Land und seine Familie fast jedes Jahr, doch ich konnte bis dahin nie den richtigen Anschluss finden und fühlte mich oft fremd. Die türkische Kultur, von der ich eine Hälfte in mir trug, kam mir bis dahin so anders vor, und ich fand mich bei Besuchen bei meiner türkischen Oma, fast kein Wort verstehend, eher alleine hinten im Garten ein Buch lesend. Erst später habe ich verstanden, wie mich die gespürte Fremdheit in der Türkei an mir selbst zweifeln ließ. Die Herzlichkeit meiner Familie gelangte bei meinen Besuchen auf Umwegen über das gemeinsam zubereitete Essen zu mir. Ich wollte nun also herausfinden, ob diese Hälfte von mir wohl in mir schlummerte und wie ich sie aufwecken könnte...
Meine erste Wohnsituation in Istanbul möchte ich nicht aus der Erzählung ausschließen, denn dort habe ich nicht nur Neues über die politische Situation im Land verstanden und die türkische Protestform des lauten Topfschlagens aus dem Fenster kennengelernt, sondern auch unheimlich viel über mich selbst. Die WG hatte ich von Deutschland aus über Facebook gefunden – eine nette Wohnung mit zwei studierenden Türkinnen, die, wie ich an vielen erschöpften Abenden im Bett herausfand, jedoch so gar nicht zu meinem eher introvertierten Wesen passten. Ganz zu schweigen von der zutraulichen, aber leicht verstörten Katze, die mich eines Tages aus dem Nichts in den Kopf biss. Ich war froh, dass ich gegen Tetanus geimpft war (danke, Mama!). Seitdem ist übrigens die Serie "Tatort" zu so etwas wie einem Heimweh-Safe-Space für mich geworden, da ich nach der Arbeit so froh über ein paar vertraute Stunden deutsches Fernsehen über meinen Laptop als Entspannung war.
Mein Türkisch war damals auf dem Niveau eines Kleinkindes, also unterhielt ich mich hauptsächlich auf Englisch – was mich ungewollt zur Attraktion der wöchentlichen WG-Partys machte. Trotz der Sprachbarriere fühlte ich mich in Istanbul wohl und fast schon zu Hause. Ich erinnere mich an einen Morgen, an dem ich mit meinem Frühstück, das ich oft mitnahm, um den WG-Smalltalk zu entgehen, auf dem Taksim-Platz saß, inmitten der vielen Menschen die Möwen hörte und die Sonne genoss. Trotz all des Chaos hatte ich genau in diesem Moment das sichere Gefühl, genau da zu sein, wo ich hingehörte.
Doch ich brauchte dringend eine neue Wohnung. Habe ich erwähnt, dass mein WG-Zimmer ein Loch in der Tür hatte, das die hassgeliebte Katze gern als Eingang nutzte? Oder dass mein Zimmerfenster in einen Schacht zwischen den Häusern ohne Tageslicht schaute? In meinem Fitnessstudio, dessen fast täglicher Besuch mir von Anfang an eine Routine in dieser fremden Stadt gab, fragte ich nach Wohnmöglichkeiten – und so lernte ich meine spätere Mitbewohnerin Irem kennen. Ich zog von Şişli nach Tarlabaşı, einem Viertel mit zweifelhaftem Ruf. Ich packte meine Siebensachen, inklusive eines großen neuen Spiegels, in ein Taxi, fragte Theresa nach Begleitung, und wir fuhren los. Die Taxifahrt war tatsächlich etwas abenteuerlich: Der Fahrer verirrte sich mit uns zwei "Almans" im Gewirr der kleinen Gassen und ließ uns genervt und viel zu weit von meiner neuen Wohnung raus. Wir schleppten nun mein ganzes Gepäck und den Spiegel zu Fuß weiter, und ich hätte mich ehrlicherweise nicht gewundert, wären wir an Ort und Stelle von den erstaunt blickenden Bewohnern, die wir passierten, ausgeraubt worden. Schießereien in der Nacht und eine unschöne Erfahrung, als ich nachts alleine nach Hause lief und mit Müll beworfen wurde, waren aber in meiner ganzen Zeit dort eine absolute Ausnahme. Ich fühlte mich dort sicher. Unsere Nachbarn waren herzlich und erkundigten sich stets, ob es uns gut ging. Auch mit Irem verstand ich mich blendend, wir redeten oft über viele Dinge.
In dieser Zeit habe ich mich nach jahrelangem Einnehmen entschlossen, die Pille abzusetzen und auch körperlich wieder zu mir zu finden. Dazu, und warum ich ausgerechnet in Istanbul bei einem kompletten Neuanfang auch noch beschloss, meinen Lifestyle umzukrempeln und vegan zu werden, dazu ein anderes Mal. Die einzigen echten Probleme in Tarlabaşı waren Kakerlaken, die sich in unserer Wohnung pudelwohl fühlten – als eines Nachts eine fliegende Kakerlake (ja, die Weibchen können fliegen!) auf meinem Arm landete, beschloss ich, dass es wohl Zeit für den nächsten Umzug war.
Inzwischen hatte ich durch mein Praktikum einige Menschen aus der Istanbuler Kunst- und Kulturszene kennengelernt und landete in meiner nächsten, diesmal wirklich großartigen Praktikumsstelle – bei einer englischsprachigen Kunstzeitschrift. Ich habe mit Text- und Designarbeit an der Kuration von Ausstellungen mitgewirkt und gewann wertvolle Einblicke in die Galeriewelt. Istanbul hat eine riesige Galerienlandschaft und ich liebte es neue Ausstelljung anzusehen. Doch schnell merkte ich auch, wie exklusiv diese Branche sein konnte. Smalltalk und Netzwerken fielen mir sehr schwer, und das Gefühl, nicht dazuzugehören, begleitete mich. Ich bemühte mich um Kontakte außerhalb dieser Welt und stieß auf Maviblau, einen Verein, der sich künstlerisch mit postmigrantischen Themen beschäftigte, und ich ging zu einem offenen Treffen. Es waren viele deutsch-türkische Leute vor Ort, und ich tauchte ein bisschen in die ehrenamtliche Arbeit ein, recherchierte für Artikel und bekam so einen neuen Anschluss zu Menschen, die sich auch in Istanbul ein neues Leben aufbauten. Diese Gemeinsamkeit schweißt zusammen und macht es leichter, über Themen zu sprechen, die einen weit weg vom bisherigen Zuhause beschäftigen.
Meine Mutter, mein Vater, meine Schwester und auch zwei meiner besten Freundinnen besuchten mich in meiner Zeit in Istanbul, und das bedeutet mir bis heute sehr viel. Die Aufrechterhaltung von Freundschaften über so große Distanzen ist keine leichte Aufgabe. Meinen Liebsten mein neues Zuhause zu zeigen, mit ihnen über den großen Istanbuler Basar zu schlendern und auf Türkisch für sie zu verhandeln, hat mich glücklich gemacht, und es ist schön, auch für andere neue Perspektiven zu öffnen.
Meine Praktikumszeit war zu Ende, doch ich wollte unbedingt in Istanbul bleiben. Ich hatte mich Hals Über Kopf in diese Stadt verliebt und habe mich inmitten von 20 Millionen Menschen zum ersten Mal selbst gefunden. Wenn ich auf der Fähre im Sonnenuntergang Fotos machte, mit der Bahn durch die halbe Stadt fuhr, vorbei an den vielen Menschen, neue Freundinnen traf oder mit Theresa auf Bootspartys ging, fühlte ich mich einfach lebendig. Also machte ich mich auf die Suche nach Jobs. So fuhr ich manchmal zwei Stunden durch die Stadt mit einem Dolmuş, dessen Fahrer ich immer nur zögerlich bat anzuhalten, weil dann alle neugierig zu mir schauten, zu Familien, auf deren Kinder ich als Deutsche aufpassen sollte, um ihnen meine Sprache beizubringen. Einmal passte ich auf zwei Kinder im Stadtteil Tarabya auf, in einer Riesen-Villa mit Blick über den Bosporus. Vielleicht waren es sogar berühmte Persönlichkeiten oder eine Schauspielerfamilie, aber meine Liebe zu türkischen Serien habe ich erst nach meiner Rückkehr nach Deutschland entdeckt. "Tatort" schaue ich jetzt nicht mehr so oft. Zu der Zeit hatte ich noch keine wirkliche Ahnung, wie unfassbar privilegiert diese Menschen gewesen sein mussten, bei denen ich Babysitten war. Meine Standards aus Deutschland hatte ich gedanklich noch nicht ganz abgelegt, und ein Haus mit Garten in Istanbul kam mir erstaunlich normal vor. Je mehr ich mich öffnete änderte sich das, und ich verstand, dass die Lebensrealitäten sehr unterschiedlich sein können. Mein Mann würde jetzt lachen und sagen, dass ich ihn und seine Familie, mit der er erst in einem Gecekondu (so etwas wie eine Hütte) und dann zu fünft in einer winzigen Zweizimmerwohnung wohnte, halt noch nicht kannte.
Wie ich wenig später mit ihm in meine absolute Traumwohnung mit Dachterrasse zog, Türkisch lernte und ein Jobangebot bekam, das ich mir nie hätte vorstellen können – das erzähle ich euch im nächsten Blogeintrag. Danke, dass ihr bis hierhin mit mir auf diese Reise gegangen seid!
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